Katharina Heimes und
Stephan Grünewald
Verbraucher sehen keine persönliche
Gefährdung durch BSE
Verunsicherung, Ekel und Schuldgefühle durch die
Perversion der Ernährungskultur bestimmen das Verhalten
der Verbraucher - doch sie zeigen keine Bereitschaft zu
Reformen: rheingold untersucht die tiefenpsychologische
Dimension der BSE-Krise.
Auch wenn die Verbraucher gesundheitliche Bedenken für
ihren Verzicht auf Rindfleisch anführen: Das Gefühl einer
persönlichen Bedrohung durch die Übertragungsmöglichkeit
von BSE ist bei ihnen nur sehr schwach entwickelt.
Eine tiefenpsychologische Untersuchung von rheingold auf
der Grundlage von zwei aktuellen Gruppendiskussionen und
einer Auswertung von 1.250 Verbraucher-Explorationen zu
den Ernährungsgewohnheiten im Jahr 2000 ergab, dass die
Bilder von Massentierhaltung und „Kadaverwirtschaft“ den
Verbrauchern den Appetit auf Rindfleisch gründlich
verdorben haben. Die werbliche Idealisierung von
Landwirtschaft und "Essen aus deutschen Landen" ist
empfindlich gestört: Die "ekelhaften und perversen"
Grundlagen unserer Ernährungskultur werden sichtbar.
Doch diese Erkenntnis führt bei den Verbrauchern nicht zu
grundlegenden Forderungen nach einer Reform des
"perversen Systems": Sie fühlen sich mitschuldig, weil sie
sich bei ihrer Ernährung selbst fahrlässig, acht- und kritiklos
verhalten und die skandalösen Zustände bislang billigend für
die Wahrung von Wohlstand und Bequemlichkeit in Kauf
genommen haben.
Der gegenwärtige Status quo wird von ihnen nicht
grundlegend in Frage gestellt. Die Verbraucher geben sich
mit kleinen privaten Maßnahmen wie dem weitgehenden
Verzicht auf Rindfleisch sowie minimalen politischen
Korrekturen wie dem Verbot der Tiermehlfütterung
zufrieden. Doch diese Beruhigungs-Strategien wirken nur
kurzfristig: Das Unbehagen an den Lebensverhältnissen wird
wiederkehren und die Verbraucher werden eine "Sucht nach
Skandalen" entwickeln, um das immer wieder aufsteigende
schlechte Gewissen an einer pervertierten Kultur
kanalisieren zu können. Das kulturelle System kann sein
Gleichgewicht scheinbar nur noch stabilisieren, indem es
häufig Skandale produziert. Diese ermöglichen es, "Dampf
abzulassen" und Stärke zu demonstrieren - ohne den
Lebensstil wirklich ändern zu müssen.
Die rheingold-Untersuchungen zu den
tiefenpsychologischen Folgen des BSE-Skandals ergaben acht
grundsätzliche Faktoren, durch die das gegenwärtige
Verhalten der Verbraucher bestimmt wird:
1. Die Verbraucher sind verunsichert, aber nicht in Panik.
Die Verbraucher sind durch die BSE-Krise irritiert und
verunsichert und fast alle beobachten bei sich selbst eine
Veränderung des Ernährungs-Verhaltens. Rindfleisch wird
entweder gemieden, ganz vom Speiseplan gestrichen oder
man sieht sich endgültig in seiner bisherigen weitgehend
fleischlosen Ernährungsweise bestätigt. Nur wenige
Verbraucher betonen, dass sie ihre Ernährungsgewohnheiten
beibehalten.
Der partielle und vorübergehende Verzicht auf Rindfleisch
ist aber weniger in gesundheitlichen Befürchtungen der
Verbraucher begründet. Eine Angst an BSE zu erkranken
oder gar Anzeichen für eine BSE-Hysterie konnten nicht
ermittelt werden. Das Erkrankungsrisiko wird als eher klein
bagatellisiert und primär nach England verschoben.
2. Der BSE-Skandal macht die fiesen und perversen Seiten
unserer Ernährungskultur sichtbar.
Die Berichterstattung in den Medien über BSE hat den
Verbrauchern allerdings buchstäblich den Appetit verdorben
und ist ihnen auf den Magen geschlagen. Die Bilder von
Massentierhaltungen, Tiertransporten, Rinderkadavern,
Schlachthäusern und Wurstverarbeitungen haben die
schmutzigen und perversen Seiten unserer (Ernährungs-)
Kultur deutlich vor Augen geführt. Die werblichen
Idealisierungen von Landwirtschaft und Essen aus deutschen
Landen zerplatzen und der gemeine, aber dennoch
alltägliche Wahnsinn unserer Lebensgrundlage tritt hervor:
Ekliges, Mörderisches, Kannibalistisches. Die Verbraucher
sind bestürzt, sie fragen sich, wo sie überhaupt leben,
erleben sich selber als "Blut- und Dreckmaschinen" in einer
"Kadaverwirtschaft", als "Mülleimer", die sich alles
einverleiben. Die Tiertransporte erinnern an
"Flüchtlingsschiffe", an "Sklaven- oder Judentransporte", die
Massentierhaltung gemahnt daran, dass es immer noch
"Konzentrationslager in Deutschland" gibt. Angesichts von
kannibalistischer Tiermehlverfütterung und
Massenschlachtungen kippt das Bild vom gesunden
Deutschland und unseren vernünftigen Lebensverhältnissen.
Ein diffuses Unbehagen nimmt Gestalt an, dass in unserer
Kultur immer noch vieles völlig falsch läuft, pervertiert und
von einer lebensverachtenden Profitgier bestimmt ist.
3. Die Forderung einer radikale Reform des Systems bleibt
aus. Der Verbraucherunmut erschöpft sich in halbherzigen,
privaten Kriseninterventionen.
Ähnlich wie im Parteispenden-Skandal führt dieses
Unbehagen, dass im Großen und Ganzen der Gesellschaft
etwas schief läuft, aber nicht zu entschiedenen Protesten
oder zu der Forderung nach radikalen System-Reformen.
Die Verbraucher reagieren vielmehr mit einer Mischung aus
Schuldgefühl und Betroffenheits-Apathie. Empörung und
Unbehagen werden sogleich wieder tiefgekühlt oder
relativiert. Die beobachtbaren Verhaltensänderungen sind
nur halbherzig und kurzfristig. Sie beschränken sich überdies
auf den privaten Lebensrahmen. Bei der privaten
Krisenintervention lassen sich drei typische Umgangsformen
differenzieren:
- Der Ignorant
- blendet die BSE-Problematik und sein
kulturelles Unbehagen völlig aus und isst demonstrativ
weiter Rindfleisch.
- Der Korrigierer
- versucht das Problem durch kleine
isolierte Maßnahmen bzw. Einschränkungen in den Griff
zu bekommen und herunterzukochen.
- Der Umsteiger
- vollzieht eine aktive Kehrtwendung im
privaten Ernährungs-Rahmen. Er kocht selber, wählt
bewusst aus und entwickelt eine eigene Ernährungs-Ideologie,
die garantieren soll, dass der eigene Bereich
von unbehaglichen Verhältnissen frei bleibt.
4. Die Verbraucher fühlen sich mitschuldig am BSE-Skandal.
Die Verbraucher verspüren, dass sie in den Skandal selbst
mitverwickelt und mitschuldig sind, weil sie nicht genau
hinsehen (wollen), weil sie in puncto Ernährung selber
schlampig, kritiklos und bequem sind oder auf billige
Angebote setzen. So versuchen sie, das eigene schlechte
Gewissen auf andere zu schieben. So wandert der "schwarze
Peter" von den Politikern zu den Landwirten, von dort weiter
zur Industrie oder zum Handel, um dann letztlich wieder
beim Verbraucher zu landen. Die Nachfrage ist ja da. Die
Mitschuld bleibt und damit ein Gefühl der Hilflosigkeit, die
persönliche BSE-Zwickmühle nicht auflösen zu können.
So geben sich die Verbraucher mit kleinen Korrekturen wie
einem Verbot der Verfütterung von Tiermehl zufrieden. Über
Risiken soll aufgeklärt werden und Fleisch besser zertifiziert
werden. Bis dahin schränkt man den Rindfleisch-Konsum
ein. Mit dem privaten Verzicht auf Rindfleisch soll auch der
ganze Problem-Komplex mit vom Tisch kommen.
Letztendlich soll der Status quo erhalten und eine
grundsätzliche Auseinandersetzung mit den eigenen
Lebensverhältnissen vermieden werden.
5. Der Überfluss fördert eine achtlose Beliebigkeit im
Umgang mit Nahrungsmitteln.
Die meisten Verbraucher erleben die Einschränkung des
Rindfleischverzehrs allerdings gar nicht als wirklichen
Verzicht. Das Ernährungsverhalten ist von einer großen
Achtlosigkeit, Lieblosigkeit oder Beliebigkeit geprägt.
Bequeme, schnelle Versorgung wird von den Verbrauchern
favorisiert. Dass man irgendetwas isst, und wie man es isst,
ist häufig wichtiger als, was genau auf den Tisch kommt. Die
Verbraucher verzichten in dieser Logik zwar auf Rindswurst,
aber nicht auf ihre rituelle Mittagspause bei McDonald's. Es
ist ihnen häufig egal, ob sie Rindfleisch, Schweinefleisch
oder Geflügel verzehren. Im Zuge der ständigen und billigen
Verfügbarkeit von Fleisch und Ernährungsprodukten hat eine
Egalisierung der Ernährung stattgefunden. Man nimmt, was
gerade einfach verfügbar ist, bewusstes Auswählen und
Qualitätskontrolle sind trotz gegenteiliger Beteuerungen eher
die Ausnahme.
6. Der mündige Verbraucher hat sich in Sachen Ernährung
selber entmündigt.
Die Verbraucher haben die Frage der Versorgung
buchstäblich aus der Hand gegeben. Sie setzen auf die
Versorgungskultur, die über Fast Food Angebote,
convenience Menüs oder Mikrowellengerichte alles wie im
Schlaraffenland mundgerecht serviert. Außerhalb der
traditionellen Familie ist der Gang zum Markt oder das
tägliche Kochen eine Ausnahme. Ein Großteil der mündigen
Verbraucher hat sich in Fragen der Ernährung selbst
entmündigt. Er ist nicht mehr fähig, die Güte und Qualität
von Nahrungsmitteln einzuschätzen. Bei seiner Ernährung
reagiert er wie ein kleines Kind: Er isst, wenn es ihm
schmeckt und er verweigert die Nahrung, wenn ihm etwas
nicht behagt. Sein wichtigstes Interesse ist es, das
Versorgungsparadies und seinen bequemen Lebensstil zu
erhalten - selbst angesichts der drastischen Kehrseiten, die
die BSE-Krise vor Augen führt. Die innere Stimme,
eigentlich selber etwas ändern zu müssen, wird
gebetmühlenartig durch die rechtfertigenden Zwänge
übertönt: Der Druck der Leistungsgesellschaft oder der
Freizeitstress, die Größe der Familie oder das Singledasein,
die Vielzahl der Aufgaben und Herausforderungen erlauben
eben keinen anderen Ernährungsstil.
7. Die BSE-Erkrankung spiegelt und bestraft die eigene
Unmündigkeit und Hilflosigkeit.
Unterschwellig bleibt aber dennoch eine Verunsicherung
und ein schlechtes Gewissen zurück. Die Möglichkeit einer
BSE-Infektion kann daher auch als himmlische Strafe für den
eigenen unmündigen Lebensstil erlebt werden: Man lebt
paradiesisch, fordert die totale Versorgung ein und verliert
dabei mehr und mehr die eigene Mündigkeit und
Versorgungsfähigkeit. Der Verlauf der Krankheit
versinnbildlicht dabei das eigene Unmündigkeits-Schicksal:
BSE macht aus dem erwachsenen, tatkräftigen Menschen ein
kleines, hilfloses Kind, das sich selber nicht mehr versorgen
kann.
8. Die Verbraucher entwickeln eine Sucht nach periodisch
wiederkehrenden (Lebensmittel-)Skandalen.
Das verbleibende allgemeine Unbehagen der Verbraucher
an den Lebensverhältnissen kann paradoxerweise durch
isolierte und komprimierte Lebensmittel-Skandale wieder
fassbar gemacht und behandelt werden. Der Skandal
definiert ein abgestecktes Feld, in dem man sich einmal
echauffieren und empören, und auf dem man durch kleine
Korrekturen und Verbote wieder Ruhe und Ordnung
herstellen kann. Da bei diesem Verhalten allerdings das
große Ganze nicht in Frage gestellt wird, ist die Beruhigung
nur kurzfristig: Das Unbehagen an den Lebensverhältnissen
kehrt sehr schnell wieder. So entsteht ein Teufelskreis, denn
immer neue Skandale sind notwendig, um das wieder
aufsteigende Unbehagen zu behandeln. Die Verbraucher
entwickeln eine Sucht nach Skandalen, nach dem damit
verbundenen begrenzten emotionalen Kick sowie den
kurzfristigen Möglichkeiten der Empörung und der
Demonstration von Handlungsfähigkeit: Unser System kann
sein Gleichgewicht scheinbar nur noch stabilisieren, indem
es jeden Monat einen Skandal produziert. Dieser ermöglicht
es, Dampf abzulassen und Stärke zu demonstrieren - ohne
den Lebensstil wirklich verändern zu müssen. Der Skandal
ist eine Art bereinigende Monatsblutung der Gesellschaft, die
aufzeigt, dass keine anderen (Lebens-)Umstände eintreten
werden.
Quelle: Rheingold-Institut, Pressemitteilung vom 18. Dez. 2000
URL: https://antispe.de/txt/rheingoldstudie.html
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